Moin,
dann will ich mal einen Versuch unternehmen zu erläutern, warum ich das Bild keineswegs für schlecht, sondern für gut halte. Ich sollte dazusagen, dass ich selber kein Freund der Street Photography bin und mich in dem Genre nicht auskenne. Ich habe das Bild zwar früher schon gesehen, mir aber ehrlich gesagt nie genauer angesehen. Insofern entsteht mein folgender Beitrag jetzt, während ich das Bild erstmals eingehender betrachte.
Die Vorwürfe aus dem Eröffnungsbeitrag lauten: "Unscharf, ungenügende Bildkomposition, verwirrende Perspektive, fragwürdige Motivwahl". Unscharf ist das Bild nach meiner Wahrnehmung nicht – ich habe es mir allerdings nur in den im Netz verfügbaren Scans in nicht zu hoher Auflösung angesehen. Man müsste das Bild wohl einmal "in echt" sehen, um das beurteilen zu können. Alle bildwichtigen Teile – die Leiter, die Metallteile im Wasser, die durch die Bewegung der Leiter entstandenen Wellen, die Plakate im Hintergrund – erscheinen mir hinreichend scharf. Die Bewegungsunschärfe des Mannes ist in meiner Wahrnehmung ein wichtiges Gestaltungsmerkmal des Bildes.
Warum die Perspektive verwirrend sein soll, erschließt sich mir nicht. Wir schauen frontal, leicht von oben auf eine Szene, die in der unteren Bildhälfte sehr einfach strukturiert ist, ebenso wie im oberen Fünftel. Dazwischen haben wir die Dächer einiger Gebäude und darunter eine Mauer, die etwa in rechtem Winkel auf einen Zaun trifft.
Dann kommen wir zu Komposition und Motiv – ich denke nicht, dass man die beiden hier voneinander trennen kann, da das Motiv m. E. erst durch die Komposition interessant wird.
Mein erster Blick geht auf die Spiegelung des springenden Mannes, von da nach oben zu dem Mann, der fast mit dem Hintergrund verschwimmt, so dass der Fokus der Wahrnehmung für mich auf dem Spiegelbild liegt. Von dem Mann aus geht mein Blick zu der Leiter und dann hinunter zu den Steinen und den Metallteilen, die da in der Pfütze liegen. Von dort geht mein Blick weiter zu der Wand im oberen Teil des Bildes links und dann hinüber zu dem Zaun und schließlich zu den Dächern im Hintergrund. Dann zieht es mein Auge wieder in das Dreieck Mann-Spiegelung-Leiter und nebenher zu der Spiegelung der Mauer in der Pfütze. Ich kann daher nicht sagen, dass ich nicht wüsste, wohin ich zuerst schauen soll. Mein Auge hat einen klaren Bezugspunkt für den Anfang und findet auch weiter den Weg durch das Bild. (Ich sage nicht, dass man das Bild so betrachten muss oder dass jeder das so sieht; ich beschreibe lediglich, wie ich das Bild sehe.)
Und nun geht es an eine genauere Betrachtung, die meiner Auffassung nach die Qualitäten des Bildes aufzeigen. Beginnen wir mit der Spiegelung des Mannes. Durch den starken Kontrast (dunkle Figur vor hellem, noch dazu gleichförmigem Hintergrund) wird dieser Teil des Bildes besonders hervorgehoben. Der Hintergrund ist an dieser Stelle komplett unstrukturiert, weil das Wasser der Pfütze an dieser Stelle völlig ruhig ist. Die Dynamik der Figur (der Spiegelung wie des Mannes selber) lässt aber bereits erahnen, dass nur einen Moment später das Motiv so nicht mehr sein wird (insofern ein sehr gutes Beispiel für das, was Cartier-Bresson den moment décisif nennt). Der Fuß des Mannes und sein Spiegelbild berühren sich gerade noch nicht (auch die Abbildung der beiden aus dieser Perspektive), was die Dynamik noch einmal unterstreicht. Das linke Bein des Mannes sowie dessen Spiegelbild verweisen auf die Leiter, die offenbar gerade als Sprungbrett für den Mann gedient hat und deren Bewegung im linken Bereich ein leichtes Wellenmuster erzeugt hat. Diese Wellen deuten auf eine – geringe – Bewegung hin und verleihen der ansonsten statisch erscheinenden Leiter – die Statik wird dadurch unterstrichen, dass die Leiter annähernd horizontal liegt – eine leichte Dynamik. Die kreisförmigen Wellen im linken Bereich finden dabei eine optische Entsprechung in den kreisförmigen Strukturen der Metallteile im vorderen Teil der Pfütze.
Im unteren Teil des Bildes haben wir einen weitestgehend leeren "negativen" Raum, der dem Motiv nach unten hin etwas Luft gibt und m. E. dem Bild angemessen ist, denn er gibt dem Schatten des Mannes ein wenig Abstand zum Bildrand, ohne zu groß zu sein. Im linken Teil des Bildes sorgen die Metallteile im Vordergrund für ein Gegengewicht und dafür, dass dort kein zu großer negativer Raum entsteht.
Die Mauer greift das Hauptmotiv noch einmal auf. Auch hier haben wir wieder eine Spiegelung und auch hier haben wir – auf dem Plakat – eine Figur, die einen Sprung vollzieht – mit zugegebenermaßen etwas mehr Eleganz als das Hauptmotiv. Auch ihr Spiegelbild ist klar in der Pfütze erkennbar. Die elegante Haltung dieser Figur auf dem Plakat kontrastiert mit der leicht gebeugten Haltung des Mannes vor dem Zaun, der ansonsten ebenfalls fast wie eine Spiegelung wirkt – dieses Mal in horizontaler Richtung. Die Fassadenteile rechts von diesem Mann wirken fast wie drei weitere Personen, die so gemeinsam mit diesem wie ein Publikum für den Sprung des Mannes über die Pfütze wirken.
Die Mauer und der Zaun separieren das Hauptmotiv vom Hintergrund, was durch die durchgehende Reihe der Zacken unterstützt wird, die nicht nur oberhalb des Zauns, sondern auch oberhalb der Mauer zu sehen sind. Der Hintergrund ist dank der Dachformen nicht monoton. Die Uhr an dem Gebäude gibt zusammen mit dem Titel einen Hinweis, um was für eine Art von Gebäude es sich handelt. Ob es Absicht von Cartier-Bresson war, dass auf dem Plakat an der Wand der erste Buchstabe des dort beworbenen Künstlers nicht zu sehen ist und damit ein Hinweis auf die Eisenbahn gegeben werden soll, weiß ich nicht; aber es ließ mich schon ein wenig schmunzeln.
Ob meine Wahrnehmung so von anderen geteilt wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich hoffe, ich habe darlegen können, warum ich das Bild keineswegs schlecht finde, warum ich die Motivwahl nicht für fragwürdig halte und warum ich die Bildkomposition für sehr gelungen halte.
dann will ich mal einen Versuch unternehmen zu erläutern, warum ich das Bild keineswegs für schlecht, sondern für gut halte. Ich sollte dazusagen, dass ich selber kein Freund der Street Photography bin und mich in dem Genre nicht auskenne. Ich habe das Bild zwar früher schon gesehen, mir aber ehrlich gesagt nie genauer angesehen. Insofern entsteht mein folgender Beitrag jetzt, während ich das Bild erstmals eingehender betrachte.
Die Vorwürfe aus dem Eröffnungsbeitrag lauten: "Unscharf, ungenügende Bildkomposition, verwirrende Perspektive, fragwürdige Motivwahl". Unscharf ist das Bild nach meiner Wahrnehmung nicht – ich habe es mir allerdings nur in den im Netz verfügbaren Scans in nicht zu hoher Auflösung angesehen. Man müsste das Bild wohl einmal "in echt" sehen, um das beurteilen zu können. Alle bildwichtigen Teile – die Leiter, die Metallteile im Wasser, die durch die Bewegung der Leiter entstandenen Wellen, die Plakate im Hintergrund – erscheinen mir hinreichend scharf. Die Bewegungsunschärfe des Mannes ist in meiner Wahrnehmung ein wichtiges Gestaltungsmerkmal des Bildes.
Warum die Perspektive verwirrend sein soll, erschließt sich mir nicht. Wir schauen frontal, leicht von oben auf eine Szene, die in der unteren Bildhälfte sehr einfach strukturiert ist, ebenso wie im oberen Fünftel. Dazwischen haben wir die Dächer einiger Gebäude und darunter eine Mauer, die etwa in rechtem Winkel auf einen Zaun trifft.
Dann kommen wir zu Komposition und Motiv – ich denke nicht, dass man die beiden hier voneinander trennen kann, da das Motiv m. E. erst durch die Komposition interessant wird.
Mein erster Blick geht auf die Spiegelung des springenden Mannes, von da nach oben zu dem Mann, der fast mit dem Hintergrund verschwimmt, so dass der Fokus der Wahrnehmung für mich auf dem Spiegelbild liegt. Von dem Mann aus geht mein Blick zu der Leiter und dann hinunter zu den Steinen und den Metallteilen, die da in der Pfütze liegen. Von dort geht mein Blick weiter zu der Wand im oberen Teil des Bildes links und dann hinüber zu dem Zaun und schließlich zu den Dächern im Hintergrund. Dann zieht es mein Auge wieder in das Dreieck Mann-Spiegelung-Leiter und nebenher zu der Spiegelung der Mauer in der Pfütze. Ich kann daher nicht sagen, dass ich nicht wüsste, wohin ich zuerst schauen soll. Mein Auge hat einen klaren Bezugspunkt für den Anfang und findet auch weiter den Weg durch das Bild. (Ich sage nicht, dass man das Bild so betrachten muss oder dass jeder das so sieht; ich beschreibe lediglich, wie ich das Bild sehe.)
Und nun geht es an eine genauere Betrachtung, die meiner Auffassung nach die Qualitäten des Bildes aufzeigen. Beginnen wir mit der Spiegelung des Mannes. Durch den starken Kontrast (dunkle Figur vor hellem, noch dazu gleichförmigem Hintergrund) wird dieser Teil des Bildes besonders hervorgehoben. Der Hintergrund ist an dieser Stelle komplett unstrukturiert, weil das Wasser der Pfütze an dieser Stelle völlig ruhig ist. Die Dynamik der Figur (der Spiegelung wie des Mannes selber) lässt aber bereits erahnen, dass nur einen Moment später das Motiv so nicht mehr sein wird (insofern ein sehr gutes Beispiel für das, was Cartier-Bresson den moment décisif nennt). Der Fuß des Mannes und sein Spiegelbild berühren sich gerade noch nicht (auch die Abbildung der beiden aus dieser Perspektive), was die Dynamik noch einmal unterstreicht. Das linke Bein des Mannes sowie dessen Spiegelbild verweisen auf die Leiter, die offenbar gerade als Sprungbrett für den Mann gedient hat und deren Bewegung im linken Bereich ein leichtes Wellenmuster erzeugt hat. Diese Wellen deuten auf eine – geringe – Bewegung hin und verleihen der ansonsten statisch erscheinenden Leiter – die Statik wird dadurch unterstrichen, dass die Leiter annähernd horizontal liegt – eine leichte Dynamik. Die kreisförmigen Wellen im linken Bereich finden dabei eine optische Entsprechung in den kreisförmigen Strukturen der Metallteile im vorderen Teil der Pfütze.
Im unteren Teil des Bildes haben wir einen weitestgehend leeren "negativen" Raum, der dem Motiv nach unten hin etwas Luft gibt und m. E. dem Bild angemessen ist, denn er gibt dem Schatten des Mannes ein wenig Abstand zum Bildrand, ohne zu groß zu sein. Im linken Teil des Bildes sorgen die Metallteile im Vordergrund für ein Gegengewicht und dafür, dass dort kein zu großer negativer Raum entsteht.
Die Mauer greift das Hauptmotiv noch einmal auf. Auch hier haben wir wieder eine Spiegelung und auch hier haben wir – auf dem Plakat – eine Figur, die einen Sprung vollzieht – mit zugegebenermaßen etwas mehr Eleganz als das Hauptmotiv. Auch ihr Spiegelbild ist klar in der Pfütze erkennbar. Die elegante Haltung dieser Figur auf dem Plakat kontrastiert mit der leicht gebeugten Haltung des Mannes vor dem Zaun, der ansonsten ebenfalls fast wie eine Spiegelung wirkt – dieses Mal in horizontaler Richtung. Die Fassadenteile rechts von diesem Mann wirken fast wie drei weitere Personen, die so gemeinsam mit diesem wie ein Publikum für den Sprung des Mannes über die Pfütze wirken.
Die Mauer und der Zaun separieren das Hauptmotiv vom Hintergrund, was durch die durchgehende Reihe der Zacken unterstützt wird, die nicht nur oberhalb des Zauns, sondern auch oberhalb der Mauer zu sehen sind. Der Hintergrund ist dank der Dachformen nicht monoton. Die Uhr an dem Gebäude gibt zusammen mit dem Titel einen Hinweis, um was für eine Art von Gebäude es sich handelt. Ob es Absicht von Cartier-Bresson war, dass auf dem Plakat an der Wand der erste Buchstabe des dort beworbenen Künstlers nicht zu sehen ist und damit ein Hinweis auf die Eisenbahn gegeben werden soll, weiß ich nicht; aber es ließ mich schon ein wenig schmunzeln.
Ob meine Wahrnehmung so von anderen geteilt wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich hoffe, ich habe darlegen können, warum ich das Bild keineswegs schlecht finde, warum ich die Motivwahl nicht für fragwürdig halte und warum ich die Bildkomposition für sehr gelungen halte.