Die Rolle des Betrachters im allgemeinen und die jeweils eigene Meinung, wenn wir als Betrachter auftreten, wird hier in einigen Beiträgen doch bei weitem überschätzt. Vielleicht liegt es mit daran, dass "Kunst" und "Kunstwerk" als Synonyme verwendet werden.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum in solchen Diskussionen in manchen Beiträgen alles aus der Erinnerung gekramt wird, über das sich der Verfasser in seinem Leben schon einmal aufgeregt hat und über das er sich in dem Moment, in dem er seinen Beitrag schreibt, wieder aufregt. Sicher gibt es auch mindestens zwei Arten von Aufregung: Man kann sich aufregen, weil man etwas nicht versteht oder gerade weil man es versteht.
Dabei ist das "Kunstwerk" nur ein kleiner Bestandteil von "Kunst" und vielleicht nicht einmal der wichtigste Bestandteil. Die Beziehung zwischen Betrachter und Kunstwerk ist nun auch nicht von so heraus ragender Bedeutung. Sie derart zentral in den Mittelpunkt zu stellen unterschlägt zumindest, dass die Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk mindestens genauso bedeutend ist.
Langsam, langsam, der Gedankengang ist noch nicht an seinem Ende angelangt...
Bei näherer Betrachtung ist vor allem kein starker Zusammenhang zwischen der Beziehung des Künstlers und der Beziehung des Betrachters zum Kunstwerk feststellbar. Klar, die überwiegende Mehrheit der Künstler wird sich freuen, wenn ihre Kunstwerke ein Publikum finden. Ob ein Werk ein Publikum findet liegt aber nicht (oder nur sehr begrenzt) in der Hand des Künstlers und ist für die Entstehung des Kunstwerkes in aller Regel von völlig untergeordneter Bedeutung.
Die zweite Überschrift des Artikel lautet aus meiner Sicht durchaus treffend: "Die Fotografin Carolin Hirt öffnet ihr Tagebuch". Wenn man "Tagebuch" nun wieder ausschließlich als Beschreibung eines physischen (oder in dem Beispiel als immateriellen) Gegenstands versteht, wird es schwierig.
Wenn ich den besagten Satz für mich interpretiere und ausschreibe, lautet er etwa wie folgt: "Carolin Hirt zeigt uns die Ergebnisse der kreativen Auseinandersetzung der für sie bedeutsamen lebensweltlichen Erfahrungen. Ihr Medium ist die Fotografie".
Vor dem Ergebnis steht also die Erfahrung und die Auseinandersetzung und kreative Verarbeitung dieser Erfahrung. Was nun das Publikum über das Ergebnis, in diesem Fall die Fotografien, denkt, ist für den hier beschriebenen Prozess nahezu völlig irrelevant.
In einem Satz: Das Kunstwerk ist nur ein Artefakt des künstlerischen Prozesses.
Wer möchte, kann hieraus ableiten, dass die Begriffe Kunstwerk und Handwerk nichts miteinander zu tun haben und wenn man sich noch so sehr darum bemüht, als eine der wesentlichen Voraussetzung für Kunst ein ausgeprägtes handwerkliches Können anzusehen.
Carolin Hirt zeigt uns in ihren Fotografien ziemlich banale, um nicht zu sagen triste, Alltagsszenen aus ihrem Leben.
Überraschung: Das Leben ist voller banaler Momente!
Tatsächlich haben die Fotografien daher durchaus einen dokumentarischen Charakter, was ja viele Betrachter als das Wesen der fotografischen Kunst und als Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Formen der Kunst ansehen.
In ihren Bildern verwendet Carolin Hirt unter anderem die Unschärfe als Ausdrucks- und Gestaltungsmittel. Nun kann man dieses Ausdrucksmittel als mangelndes handwerkliches Können kritisieren. Das Problem dieser Form der Kritik ist, dass sie eher eine Meinung darstellt und letztlich kaum zum Erkenntnisgewinn beiträgt.
Unscharf: Die kann nix!
Hat der Betrachter aus dieser Feststellung etwas gelernt? Nein!
Es ist aber auch nicht so, wie hier auch behauptet wird, dass diese Form des Ausdrucks- und der Gestaltung sich jedweder Kritik durch den Betrachter entzieht und jedes irgendwie unscharfe Bild als "große Kunst" akzeptiert werden muss. Voraussetzung für eine solche Kritik ist aber, dass man "Schärfe" und "Unschärfe" als
gleichwertiges Mittel von Gestaltung und Ausdruck akzeptiert. Es ließe sich trefflich darüber streiten, welchen Anteil die Werbestrategie "scharf, schärfer, knackscharf", der Kamerahersteller daran hat, dass es nach meinem Eindruck vielen Fotografen schwer fällt in den Bildern von Carolin Hirt nicht die "fehlende Schärfe", vielmehr die "stark reduzierte Schärfe" zu sehen. Das eine ist Ausdruck von Unfähigkeit, das andere ein Stilmittel. Wie gesagt: Ich gehe davon aus, dass die liebe Carolin durchaus in der Lage wäre auch "knackscharfe" Fotografien zu erstellen, weil das mit einer handelsüblichen Kamera kaum eine Herausforderung darstellt.
Was erlaube Hirt?
Carolin Hirt verwendet die stark reduzierte Schärfe als Mittel der Ästhetisierung der Inhalte. Das Banale der Szenen und das Dokumentarische in ihren Bilder wird hierdurch abgeschwächt zugunsten einer subjektiven Poesie des Alltags.
Die Kritik setzt demnach inhaltlich daran an, ob die Wahl des Mittels dem Gegenstand angemessen ist.
Mein persönliche Kritik antwortet darauf "teils, teils". Während es für mich als Betrachter beim ersten Bild sehr gut umgesetzt ist und dem Gegenstand der Darstellung angemessen erscheint, trifft das auf viele Bilder der Serie nicht zu. Im ersten Bild entsteht mit dem Einsatz der stark reduzierten Schärfe, dem Schnitt und dem Blickwinkel eine sehr intime und gefühlvolle Momentaufnahme. Bei den anderen Bildern will das nicht recht gelingen. Hier empfinde ich, unter anderem, die stark reduzierte Schärfe oft als bemüht, als ebensolchen Versuch dem Banalen einen tieferen Sinn zu geben. Kritik ist niemals objektiv. Und auch hier spielt meine
eigene lebensweltliche Erfahrung als Betrachter eine große Rolle: Da bin ich zu alt zu! Das ist mir zu selbstverliebt und pubertär. Aber was solls? Das ist ja nun nicht das Problem der Fotografin, dass ich ein alter Sack bin, oder?
Aber genau dieses Problem, das nun mal meines ist, ermöglicht es mir auch ein wenig wohlwollender auf die Fotografin und die gezeigten Fotografien zu schauen:
Fein, mal schauen, was da die Jahre über noch kommt! Ich kann, ich muss mich aber nicht über die fotografischen Fingerübungen in einem Skizzenbuch einer 25jährigen aufregen, selbst wenn sie mir nicht gefallen oder ich sie nicht verstehe. Ich kann sie auch als Versprechen für die Zukunft ansehen und mich auf eben diese Zukunft, in der ich den Arbeiten von Carolin Hirt vielleicht wieder einmal begegne, freuen.
Im Gegensatz zum Handwerk ist Kunst vor allem auch lustvolles Scheitern.
Natürlich stellt auch dieser Beitrag keine ausführliche Analyse und Kritik der ganzen Serie dar. So was macht richtig viel Arbeit und dazu, wie bereits erwähnt, inspiriert mich die Serie zu wenig.
Greets
/bd/