Offensichtlich fällt es mir schwer zu erklären, was ein Bild für mich zu einem Portrait macht. Ich versuche es noch einmal etwas anders und gebündelt. Ich hatte ja bereits gesagt, dass der Kontext für mich eine Rolle spielt: Der Kontext, in dem das Bild aufgenommen wurde und der, in dem ein Bild gezeigt wird. Ob ein Bild ein Portrait ist, hat daher für mich nicht ausschließlich etwas mit den Bildeigenschaften zu tun. Diese spielen aus meiner Sicht sehr wohl eine Rolle (meiner Auffassung nach ist die Darstellung einer Person für das, was ich unter einem Portrait verstehe, essentiell), aber das ist nur ein Faktor unter mehreren. Für mich gehört Intention dazu: Die der Fotografierenden und der Abgebildeten sowie die derjenigen, die das Bild zeigen (was eine der vorgenannten Personen sein kann, aber auch jemand ganz anderer).
Ich will versuchen, für drei der hier zuvor genannten Beispiele zu argumentieren, warum ich sie nicht für Portraits halte:
- Die Kinderschokolade: Das Bild wurde mit der Intention aufgenommen, Werbung für ein Produkt zu machen; die Person ist (in gewissem Rahmen) austauschbar, so dass dort auch jemand ganz anderer hätte stehen können. Die abgebildete Person hat nicht ein Bild erwartet, das ihre Charaktereigenschaften abbildet, sondern ein Werbe- oder Produktfoto, das vom Auftraggeber verwendet wird. Und die Firma, die das Bild verwendet, nutzt es zur Produktwerbung; die abgebildete Person ist – wie dem von Andreas verlinkten Artikel gut nachzulesen ist – lediglich ein Werbeträger.
- Das T-Shirt, das ich in einem früheren Beitrag in die Diskussion brachte: Auch dieses Bild wurde mit der Intention aufgenommen, Werbung für ein Produkt zu machen; die Person ist (in gewissem Rahmen) austauschbar, wie man ja auch auf den weiteren Bildern sieht, mit denen das Produkt dort beworben wird. Die abgebildete Person hat auch hier kein Bild von sich als Person erwartet, sondern ein Produktfoto, das vom Auftraggeber verwendet wird. Und die Firma, die das Bild verwendet, nutzt es zur Produktwerbung; die abgebildete Person ist lediglich ein Kleiderständer aus Fleisch und Blut.
- Mugshots: Diese Fotos werden mit der Intention aufgenommen, einen bestimmten Sachverhalt zu dokumentieren. Die abgebildeten Personen sind hier natürlich nicht austauschbar, aber die Fotos werden zu Zwecken der Identifikation und Dokumentation aufgenommen. Die Abgebildeten erwarten in der Regel kein Bild von sich, das ihren Charakter darstellt und bei dem sie in irgendeiner Weise posieren. Sie erwarten ein Foto, das in den Akten von Behörden verwendet wird. Und die Behörde verwendet diese Bilder zu genau dem Zweck, zu dem sie sie aufgenommen hat.
Bei dem letztgenannten Beispiel sieht man aber nun insbesondere, dass nicht nur der Kontext der Aufnahme sondern auch der der Präsentation eine Rolle spielt. Während der Mugshot von Bill Gates von 1977 ursprünglich nichts anderes als ein solches dokumentarisches Foto war, wurde es später durch andere Personen unter anderem auf einem Buchcover verwendet – und damit zu einem Portrait. Trump hat das allem Anschein nach noch eine Stufe weiter getrieben und möglicherweise bereits bei der Aufnahme an eine weitergehende Verwendung des Bildes gedacht. Und gezeigt wird es nun auch im White House in einem Bilderrahmen – und damit ist es aus meiner Sicht zu einem Portrait geworden.
Zusammengefasst: Aus meiner Sicht spielen neben dem Bildinhalt auch die Intention der Fotografierenden und Abgebildeten sowie bei der Präsentation eines Bildes eine Rolle für die Beurteilung, ob ein Bild ein Portrait ist. Die letzten Beispiele zeigen auch, dass nicht alle drei Bedingungen (Fotograf beabsichtigt, ein Portrait zu erstellen; die abgebildete Person erwartet ein Portrait von sich; Präsentation erfolgt in einem Kontext, der ein Portrait erwarten lässt) erfüllt sein müssen. Insofern kann m.E. auch ein Schnappschuss ein Portrait sein, aber nicht jedes Bild, das eine Person zeigt, ist meiner Auffassung nach deshalb gleich ein Portrait. Daher widerspreche ich der im Titel dieses Threads formulierten These.