Gast_402205
Guest
Eine Kamera ist keine Geige!
Wenn wir vom Aufnahmegerät reden, stimmt das wohl. Da hinkt aber auch der Vergleich ein wenig, denn eine Geige emittiert Signale, während eine Kamera Signale aufzeichnen soll. Allerdings gibt es durchaus Parallelen, die die Aussage etwas in Frage stellt, wenn wir die Meta-Ebene betrachten: So wie die Geige bei der Tonproduktion dem Geiger möglichst nicht im Weg sondern Werkzeug sein soll, soll auch eine Kamera Bilder möglichst wie vom Fotografen beabsichtigt aufzeichnen. Wine Geige mit schrägem Klang wird selten als "gut" klassifiziert werden und teilt damit das Schicksal von Kameras, die "seltsame" Bilder liefern.
Wenn eine Kamera Bilder produziert, die nicht dem üblichen Schärfe-/Farben-/Größen-Schema entspricht, aber der Fotograf das Ergebnis als Ausdruck seines Schaffens präsentiert oder akzeptiert, dann geht das für den Fotografen in Ordnung -- dem Publikum jedoch muss man zugestehen, seine eigenen Maßstäbe an das Gebotene anzulegen und da wird das "Wie" fast immer höher bewertet als das "Was", wenn das "Was" emotional (individuell) unbedeutend ist.
Oder in Kurzfassung: Solange man nicht der Oma die unscharfen, verwackelten, unterbelichteten und unsinnig kadrierten Bilder vom Enkerl vorführt, sondern unbeteiligten Dritten, wird man aufgrund der fehlenden emotionalen Nähe zum Inhalt (dem "Was") eine höhe Bewertung des "Wie", der (fotografischen) Technik erfahren.
Die Grundregel bei allem medialen Schaffen lautet: 3N
Nähe - Nutzen - Neuigkeit
Neuigkeit:
Wenn ich Bilder von der Rückseite des Mondes zeigen könnte, wäre die technische Bildqualität ziemlich sekundär. Das gleiche gälte für ein Bild vom Yeti oder einem Promi in verfänglicher Pose.
Nutzen:
Bilder, die einen klar definierten Nutzen haben, wie die Erinnerung ans Enkerl oder die Dokumentation des selbst Erlebten, brauchen kaum technische Überflieger zu sein, weil die Erinnerung den Kontext liefert und das Foto nur eine Art Knopf im Taschentuch darstellt. Der Knopf sieht auch nicht nach Enkerl aus und doch erinnert er manchmal daran …
Nähe:
Ist einem das Enkerl am Foto bekannt oder war man beim Urlaub dabei, stellt sich eine Nähe zum Bildinhalt ein, der die Technik unerheblich macht.
"Gute" Bilder erfüllen diese drei Bedingungen und wie unschwer zu erkennen, kann das nicht für alle Betrachter gelten, denn nicht jeder ist Bekannter des Enkerls und nicht jeden interessiert Frau Merkel beim Austernessen. Gerade die zahllosen Prominenten-Fotos zeigen sehr schön, wie das "Was" das "Wie" aushebelt -- die wenigsten Paparazzi sind Könner, wenn es im Bildqualität geht. Die Zeitungen brauchen keine Porträts, sondern Menschen in Aktion, Illustrationen eines berühmten Lebens.
Fototechnikforenten haben jenseits des (uninteressanten) Bildinhalts ein Interesse an der Aufzeichnungsqualität und wenn Licht und Optik und Kamera die Kutte von Frau Merkel in bislang unerreichter Detailtreue zeigen, stellt sich dadurch Nutzen, Nähe und Neuigkeit ein, das "Wie" wird durch die Interessenslage, dem Kontext, zum "Was", und des eigentliche Sujet verkommt zum austauschbaren Beispiel.
Das selbe gilt übrigens auch für den Begeigten: ist er ein im Hören Geschulter, werden ihn die Feinheiten einer Stradivari begeistern, selbst wenn er zur gebotenen Musik keine Affinität besitzt. Ein nur an der Musikstück im Allgemeinen Interessierter wird die Geigentöne eher nicht zum Anlass der Begeisterung nehmen, wenn ihm das Stück nicht behagt.
In diesem Kontext ist die Geige als technische Einrichtung zur Umsetzung eigener Vorstellungen also durchaus mit der Kamera vergleichbar -- dem "einfachen" Konsumenten muss das "Was" erst einmal irgendwie nahe gehen, um das "Wie" unerheblich zu machen.
Der Ausweg aus dem Dilemma besteht im Produzieren von Werken ikonischer Qualität, was jedoch enorm viel Arbeit verursacht und daher vom typischen Amateur kaum zu schaffen ist.
Ikonen entstehen, wenn ein "prototypisches Bild" für die Qualität einer Erfahrung entsteht -- und da sind halt die meisten Amateurbilder eher wenig berührend. "Sperber am Ast sitzend" haut niemanden vom Hocker, "Radfahren in engen Gassen", "Pfützenspringen" (HCB), "Sterben für die Freiheit" (Capa) oder "Küssen im Affekt" (Robert Doisneau) schon eher.
Womit schon etwas vom "Geheimnis" attraktiver Bilder gelüftet wurde: ikonische Bilder zeigen Verben, "Gebrauchsfotos" Substantive. Das Enkerl, das Auto, das Riesenrad, der Kölner Dom: Niemanden interessiert's. Diese Fotos sind so interessant wie ein Lexikon und wer liest schon freiwillig das Lexikon als Bettlektüre?
"Das Enkerl auf dem Karussell" hat da schon mehr Potenzial. Die Omi sieht das Enkerl, der Rest der Welt ein Kind, das Spaß an der offenbar neuen Erfahrung hat. Grundsätzlich wollen Menschen Menschen sehen, so sind wir halt programmiert. Deswegen kommen die halbgaren Halb- oder Ganznackten grundsätzlich besser an, als perfekt fotografierte Produkte, Bäume, Sperber oder Bauwerke. Das öde Urlaubsfoto mit dem zig-millionsten Sonnenuntergang auf Malle ist so prickelnd wie ein McD Milchshake. Aber mit Elvira ohne Oberteil im Vordergrund kann es noch für tausende Likes sorgen, ohne dass sich jemand um Kamera, Objektiv, Brennweite oder Verschlusszeit Gedanken machen würde.
Wenn man allerdings mangels Elviren bloß Sperber abzulichten bekommt und einem der Beifall halt abgeht, muss man seine Machtwerke mit teurem Glas veredeln und darauf hoffen, dass die anderen fünf Sperberkenner und ein paar mehr neidige Nichtglasbesitzer dem Federdetail die Aufmerksamkeit zollen, die dem Bild gerecht wird. Und klar nervt es dann, wenn eine kaum sichtbare *** aus dem Smartphone mehr Interesse, Zustimmung und Begeisterung bei der mit Testosteron geladenen Hälfte der Bevölkerung hervorruft, als die feine Zeichnung des 600/4 im Gegenwert eines Kleinwagens … Und dann -- kommen wir auf den Punkt - wird die Top-Bildqualität zum letzten Rückzugsargument. "Ja, der Sperber ist urfad, aber schau, welche Details im Gefieder …" -- "<gähn> könntest du bitte wieder die Bilder von der Elvira …"
Diese Schlacht, nein, dieser Krieg ist nicht zu gewinnen. Wenn das "Was" nix ist, hilft keine Bildqualität und die Diskussion darum schon dreimal nicht. Fotografiert lieber Verben statt Substantive und beobachtet, wie Bildqualität sekundär wird. Oder T*tt*n
