Naja, aber ein bissel lebt Fotografie doch schon davon, dass da irgendeine Unmittelbarkeit oder besondere Beziehung besteht zwischen der (tatsächlichen) Szene, dem was durch die Linse auf den Sensor kommt und dem, was hinterher im Bild (Print, PC, egal) zu sehen ist.
Doch. Nämlich die, dass Photonen, *vom Objekt/Subjekt reflektiert oder erzeugt*, durchs Objektiv geschleust, auf den Sensor/Film gelangt sind und dort Elektronen aus Silberhalogenid-/Silizium- oder sonstigen Molekülen gehauen haben, etwas hinterlassen haben, eine Ladung oder ein verändertes Molekül. In der Gesamtheit - ein 'Bild'.
Da bin ich ganz bei dir, dass die Unmittelbarkeit den besonderen Reiz und die besondere Herausforderung des Mediums Fotografie ist. Jedes meiner Bilder, und wenn es noch so abstrakt ist, lebt letztlich von der Auseinandersetzung mit der Welt im Augenblick der Aufnahme. Dabei ist keine Begebenheit bei der Aufnahme beliebig. Aus meiner Sicht machen viele, die sich mit experimenteller Fotografie und/oder der Bearbeitung in der digitalen Dunkelkammer beschäftigen genau diesen Fehler - sie gehen davon aus, dass es gar nicht so sehr auf die Gegebenheiten, etwa die Lichtstimmung, während der Aufnahme ankommt.
Meine Kritik an deinem Argument bezieht sich daher auf deinen Gebrauch des Begriffs "tatsächliche Szene" die du, so scheint es mir, als Synonym für Realität nutzt. Meine Annahme sehe ich bestärkt, durch deinen Beitrag im zweiten Absatz.
Letztlich ist das ja der Kern der Auseinandersetzung zwischen den Puristen und den Anhängern des "alles ist möglich": Gibt es eine Realität und wenn ja, sind wir in der Lage diese in einer allgemeingültigen Sichtweise abzubilden?
"If a tree falls in a forest and no one is around to hear it, does it make a sound?"
Nun bin ich wieder ganz bei dir, wenn du beschreibst, dass es einen realen Vorgang gibt, den wir mit physikalischen Theorien erfassen (schon dies ist nicht der reale Vorgang an sich), der die Merkmale des Aufnahmematerials bestimmen. Wenn ich die Kamera während der Aufnahme bewege oder/und Mehrfachbelichtungen einfüge, ist das auch ein Bestandteil genau dieser Realität. Die Eigenschaften der Aufnahme werden lediglich um die Dimensionen Bewegung und Sequenz erweitert. Das dürfte auf jede andere Methode der Aufnahme zutreffen - ob nun der Einsatz eines bestimmten Objektivs einer Blitzanlage oder eines Verlaufsfilters: Für alle Methoden trifft deine Beschreibung im zweiten Absatz zu. Die "Realität" der Aufnahme wird nicht ausschließlich dadurch bestimmt
was wir abbilden, vielmehr auch davon
wie wir es abbilden.
Aber ist dies überhaupt von entscheidender Bedeutung?
Ich denke nicht.
Der rhetorische Kunstgriff deiner Argumentation liegt aus meiner Sicht darin begründet, dass du den Prozess der Fotografie mit der Entstehung der Aufnahme enden lässt und einen entscheidenden Gesichtspunkt außer acht lässt: Den Betrachter!
Der Betrachter ist immer schon da. Während der Aufnahme in der Person des Fotografen, danach in Form des Publikums. Und spätestens hier können wir doch nicht anders und müssen uns von der Vorstellung einer allgemeingültigen Sichtweise auf die "Realität" verabschieden. Ein Purist mag den Rand eines Buchenwaldes im Mai nach einem kurzen Schauer im Gegenlicht als Vorhandensein von Licht, Wasser, Baumstämmen und Laub ansehen. Ich sehe tanzende Lichter, Reflexionen, Möglichkeiten, sich auflösende Materie.
Der Baum macht ein Geräusch, wenn er fällt, auch wenn niemand da ist, der es hört. Es gibt eine Realität. Allerdings ist das nicht von Bedeutung, da dieses Geräusch nur durch die subjektive Erfahrung wahrnehmbar ist. Der Baum macht ein Geräusch aber er macht für jeden einzelnen Menschen zu jedem bestimmten Zeitpunkt ein anderes Geräusch.
OK - ich komme langsam zum Punkt...
Wenn ich mich von der Vorstellung einer allgemeingültigen Realität verabschiede, ohne die Vorstellung des Unmittelbaren aufzugeben. Dann ist das Aufnahmematerial ein Abbild des Unmittelbaren und die Arbeit in der digitalen Dunkelkammer der subjektive Ausdruck des unmittelbaren Eindrucks.
Greets
/bd/