Einen hab ich noch! Ist absolut seriös und passt heute wie damals!
Beim Aufräumen gefunden und aus einer Zeit, als deutsche Postleitzahlen noch vierstellig waren. Man schickte sich zwar schon Emails, aber das Internet existiert in seiner heutigen Form noch nicht ansatzweise. In dieser Zeit schrieb Jürg H. Meyer in der (damals) schweizer „PHOTOGRAPHIE“ einen Beitrag, der auch rund 30 Jahre nach dem Verfassen nichts an Aktualität verloren hat!
„Er hatte nie das richtige Objektiv“
>> Er habe, erzählte mir ein Leiter von Photokursen für Amateure, unlängst einige Leute durch die nächtliche Stadt geführt, um ihnen Möglichkeiten zu demonstrieren, die höchstempfindliche Filme in Verbindung mit lichtstarken Objektiven bieten. Ein Teilnehmer sei ihm besonders in Erinnerung geblieben: Er habe eine wohl gefüllte Universaltasche mit sich geschleppt. Genau besehen sei er wohl der Bestausgerüstete von allen gewesen. Trotzdem photographierte er kaum. Der Mann war ein großer Theoretiker. Angesichts eines jeden Motivs wusste er auf Anhieb, welches Spezialobjektiv hier die besten Resultate liefern wurde. Nur: „Schade, das habe ich jetzt nicht bei mir.“ bedauerte er ein übers andre Mal. Und unter solch bedauerlichen Umständen lohnte es nicht für ihn natürlich nicht seine Kamera auch nur aus der Tasche zu holen. Während die anderen fleißig knipsten, stand er mit eingebildeter Überlegenheit und prachtvoller Ausrüstung untätig dabei.
Ein tragischer, aber keineswegs einmaliger Fall. Ansatzweise findet man dieselbe Haltung bei jedem Kamerabesitzer, der schon nach kurzer Zeit die Freude am schlichten Normalobjektiv verliert, weil er mit dem nur banale Bilder hinkriegt. Ja. wenn ich ein längeres Tele oder ein rechtes Weitwinkel hätte, denkt er, dann brächte ich ganz andere Resultate zustande. Freilich, zusätzliche Brennweiten erweitern die photographischen Möglichkeiten Und sie können auch die Kreativität des talentierten Photographen inspirieren - jeder Photograph hat seine Lieblingsbrennweite

, die er besonders gern, besonders häufig benutzt. Aber es ist ein Trugschluss zu glauben, üppiger Objektivbesitz sei sozusagen eine Erfolgsgarantie für bessere Bilder. Material kann weder Einfallsreichtum noch Talent ersetzen. Dem unsicheren, an seinem Können zweifelnden Anfänger wird gerade eine wohl gefüllte Objektivsammlung unbemerkt zum Stolperstein. Angesichts möglicher Schnappschüsse sitzt ihm mit auffallender Häufigkeit gerade das falsche Objektiv an der Kamera. Und es bieten sich Motivgelegenheiten noch und auch gerade für die Spezialbrennweite, die in seiner Sammlung fehlt oder für die Wechseloptik, die an diesem Tage zu Hause im Schrank geblieben ist
Der Photoamateur, der gleich dem elsässischen „Hans im Schnoggeloch" stets das haben möchte, was er nicht hat, und mit dem, was er besitzt nichts anzufangen weiß. (Er) ist sich nicht bewusst, dass das fehlende und scheinbar so dringend benötigte Objektiv für ihn letztlich nur eine billige Zuflucht, Ausrede, Entschuldigung darstellt, um sich im konkreten Fall vor dem Photographieren das heißt vor der gestaltenden Auseinandersetzung mit dem Motiv zu drücken - aus Angst an der Aufgabe zu scheitern. Der psychologische Hintergrund des Phänomens ist nicht ohne Reiz. Die Werbung der Photoindustrie und zahllose Artikel in allen Photozeitschriften machen es jedem aufmerksamen Leser klar: Wer die Kamera „Knipson“ und die hervorragenden Wechselobjektive der Marke „Blendor“ besitzt kann, wenn er will und sich auch nur ein bisschen Mühe gibt, genauso schöne Bilder hinkriegen wie der Harald Mante oder der Helmut Newton oder der Herr Hamilton. Mancher von den Prominenten verrät sogar bereitwillig, wie er diesen Trick und jenen Effekt hinkriegte. Dem Leser werden damit sozusagen photographische Kochrezepte serviert, die man - so ergibt sich der Eindruck - eigentlich nur nachzuvollziehen brauchte. um praktisch identische Resultate wie die großen Meister zu erhalten.
Der erfahrene Photoamateur zieht aus solchen Informationen Gewinn. Sie inspirieren ihn zu eigenen Experimenten. Beim nur mit oberflächlichem Wissen angereicherten, in der Praxis aber unsicheren Anfänger bewirken sie dagegen leicht einen eigenartigen Kurzschlusseffekt. Der technisch gut Ausgerüstete fühlt sich stolz im Bewusstsein, das gleiche photographische Werkzeug wie bewunderte Vorbilder zu besitzen. Ich könnte damit, so ist er überzeugt, unter Anwendung der mir bekannten Rezepte zum selben Resultat gelangen. Denn meine Kamera ist genauso gut, meine Objektive sind genauso scharf. Die Illusion wird als angenehmes Positiverlebnis empfunden.
Er wüsste. wie man’s macht, der Materialgläubige. Aber er macht's lieber nicht. Er lässt seine treffliche Kamera und die superscharfen Objektive in der Tasche, wofür er - siehe eingangs - immer Gründe findet. Denn so kann er sich bis zum Ende seiner Tage sagen: „Ich hätte es gekonnt, wenn ...“ Doch hätte er die Aufnahme wirklich versucht, wäre ihm die Erfahrung - was er im Unterbewusstsein ahnte - nicht erspart geblieben, dass erstklassiges Werkzeug und angelesenes Wissen halt noch lange keinen brauchbaren Photographen abgeben.
Eindeutig die besten Bilder, berichtete mir der erwähnte Photokursleiter noch, habe eine Teilnehmerin erzielt. die nur eine einfache, doch qualitativ gute Kamera ohne Wechselobjektive besaß. Kein Wunder: Sie kümmerte sich nicht um technisches Wenn und Aber. Sie hatte ein einfaches, gutes Gerät, ging damit unbeschwert an jede neue Aufgabe heran und fragte sich unternehmungslustig: „Wie mach ich mit meinen Mitteln das Beste daraus?“
Wer es trotzdem lieber raffinierter wünscht, kann sich heute mit zwei verhältnismäßig preiswerten Zoom-Objektiven einen Brennweiten-Spielraum zulegen, der mindestens vom 35 mm Weitwinkel bis zum 200er-Tele reicht, und der in Form von Fixbrennweiten eine bleischwere Tasche füllen und außerdem ein Vielfaches kosten würde. Zwei Objektive dieser Art von guter Qualität erschließen zumindest dem Anfänger praktisch alle wünschbaren kreativen Möglichkeiten. Den viel geliebten Sonnenuntergang mit ballongroßer Feuerkugel bringt man damit zwar vielleicht nicht gar so dramatisch hin. Indessen hat man hinlänglich Gelegenheit zu merken, dass der Sonnenuntergang auch zauberhaftes Licht auf dem Körper der Begleiterin oder rötliche Effektbeleuchtung auf einem pittoresken Haus am Strand sein kann. Wer das nicht sieht und stattdessen untätig einer leider nicht vorhandenen 1000-mm-Brennweite nachtrauert, lässt das Photogra-phieren besser, bequemer und billiger bleiben.<<
Johann