Spannendes Thema. Ich hab beim Zeichnen schon immer Probleme gehabt, den Fluchtpunkt (oder besser die Fluchtpunkte) zu erkennen.
Vielleicht kapier ich es jetzt, wenn ich mir meine Fotosammlung mal durchgehe und Fluchtpunkte suche.
Fluchtpunkte in Fotografien suchen ist eigentlich ganz einfach. Um das Prinzip zu erklären, geh ich mal zur Vereinfachung davon aus, daß die Negativebene bei der Aufnahme exakt senkrecht stand. Unter dieser Voraussetzung gilt folgendes:
- Alle Parallelenpaare, die in der Realität zusätzlich parallel zur Bildebene verlaufen, verlaufen auch im Bild untereinander parallel. Mit anderen Worten und mathematisch nicht ganz korrekt: Sie haben keinen gemeinsamen Fluchtpunkt, dieser liegt im "Unendlichen"
- Für alle anderen untereinander parallelen Kanten gilt: Sie verlaufen im Bild NICHT parallel, sondern "fluchten", d.h.: die Bilder dieser Kanten treffen sich in einem "Fluchtpunkt"
- Für alle parallelen Kantenpaare, die zusätzlich parallel zur Erdoberfläche stehen, nicht jedoch zur Bildebene - das sind diejenigen, die dich wohl am meisten interessieren werden - gilt: Die Bilder dieser Kanten treffen sich in einem Fluchtpunkt, der auf dem zeicherisch/mathematischen "Horizont" liegt. Diesen Horizont bittre nicht verwechseln mit dem "sichtbaren" Horizont z.B. im Gebirge.
- Der zeichnerische "Horizont" befindet sich bei waagrecht ausgerichteter Blickachse IMMER EXAKT auf Augenhöhe und verläuft immer waagrecht. Mit anderen Worten: dieser zeichnerische Horizont wandert ständig mit der Augenhöhe mit. Entsprechend befindet sich der fotografische Horizont immer exakt in der Bildmitte - vorausgesetzt, es wurde kein Ausschnitt hergestellt ubd kein shift-Objektiv oder ähnliches verwendet. Entsprechendes gilt füt Balgenkameras: die optische Achse steht senkrecht auf der Negativmitte
- Alles was sich in der Realität oberhalb deiner Augen/Objektivmitte befindet, liegt im Bild über dem Horizont, alles was drunter liegt, liegt auch im Bild drunter und was sich auf Augenhöhe befindet, liegt im Bild exakt auf dem Horizont.
- Steht eine Kante eines Quaders senkrecht auf der Bildebene und die andere parallel dazu, so gibt es nur einen Fluchtpunkt, der dann immer in der Bildmitte liegt. Die andere Kante verläuft dann parallel zum Horizont - und zwar gleichgültig, wo sich das Objekt im Bild befindet, d.h. zentral oder seitlich versetzt - spielt keine Rolle. Dies ist ein Spezialfall, den - vor allem Kunsthistoriker - in sehr mißverständlicher Weise als "Zentralperspektive" bezeichnen. Mit diesem Begriff sind dann meist noch zwei vollkommen falsche Annahmen verbunden: daß das dargestellte Objekt sich ("zentral") in der Bildmitte befinden müsse und daß b) auch alle anderen, im Bild dargestellten Quader nur diesen einen Fluchtpunkt haben dürften.
Das ist grottenfalsch!
Beweis: Stell deine Kamera (in Gedanken) so in einen rechtwinkligen Raum, daß sich die Bilder der Raumkanten exakt in der Bildmitte treffen: Das gibt ein extrem langweiliges Bild. Damits spannender wird, stellste noch zwei Quader rein: einen seitlich direkt so an die Wand, daß eine seiner Seiten vollständig von der Wand berührt wird, die andere Kiste stellste beliebig frei - schräg - in den Raum, aber so, daß mit Sicherheit keine der Quaderkanten zu einer der Raumkanten paralel steht. Wenn du das (in Gedanken) vollzogen hast, fragste dich, wo die Fluchtpunkte der Kisten liegen.
Antwort: die erste Kiste hat nur einen Fluchtpunkt, der identisch ist mit dem Fluchtpunkt des Raumes, OBWOHL die Kiste nicht im Zentrum steht. Die zweite Kiste hat - wie üblich - zwei Fluchtpunkte, die selbstverständlich NICHT mit dem Fluchtpunkt des Raums zusammenfallen. Damit hat sich das "Thema" "Zentralperspektive" hoffentlich für alle Zeiten erledigt. Das gabs/gibts eh nur, weil Kunsthistoriker nich wissen, was eine Zentralprojektion is 
Bestimmung der Fluchtpunkte vor der "Natur"
Beim Zeichnen vor der "Natur" kann man die beiden Fluchtpunkte von rechtwinkligen Gebäuden so finden: Man schließt ein Auge und stellt oder setzt sich in die Posttion, in der man das Objekt zeichnen will. Der Horizont wandert dabei stets auf Augenhöhe mit. In dieser Position streckt man beide Arme so aus, daß a) der Unterarm samt Zeigefinger auf Augenhöhe ist b) beide Arme einen rechten Winkel bilden und c) jeweils ein Arm zu jeweils einer der fraglichen Gebäudekanten parallel steht. Unter den genannten Voraussetzungen zeigen die Finger dann auf die Fluchtpunkte auf dem Horizont. Meistens liegt mindestens einer der Fluchtpunkte außerhalb des Bildes.
Eine Alternative hierzu: Die Gebäudekonturen auf einer Glasplatte nachzeichnen. Die Methode, die schon Dürer und Leonardo da Vinci verwendeten, hab ich weiter oben schon beschrieben. das wiederhol ich nicht nochmal (
https://www.dslr-forum.de/showpost.php?p=4458145&postcount=47).
Bestimmung der Fluchtpunkte in der Fotografie:
Wenn bei der Aufnahme eine der Bildbegrenzungen exakt waagrecht und die andere exakt senkrecht stand, findest du die Fluchtpunkte in Fotografien, in dem du zunächst den Horizont festlegst. Der is leicht zu finden, weil er waagrecht durch die Bildmitte - d.h. den Schnittpunkt der Bilddiagonalen - verläuft. Die Fluchtpunkte bestimmt man, indem man die fragliche Gebäudekante per Lineal bis zum Horizont verlängert. Voraussetzung ist natürlich auch, daß das Objektiv halbwegs verzeichnungsfrei ist.
Wunder dich aber nicht, wenn das auf Anhieb nicht so recht hinhaut. Es ist nämlich tatsächlich nicht immer ganz einfach, entsprechende Gebäudekanten zu finden. Gründe: Schatten, Verzierungen, Spielereien der Architekten, die aus unterschiedlichsten Gründen gerne mal "Waagrechte", "Senkrechte" oder "rechte Winkel" produzieren, die in Wirklichkeit gar keine sind.
Literaturhinweis:
Wenn du die Sache vertiefen willst: Es gibt ein sehr hübsches, im doppelten Wortsinn "künstlerisches" Lehrbuch von Hugo Peters mit dem Titel "Äugel". Peters unterrichtete an der Stuttgarter Kunstakademie. Die Anschaffung lohnt sich.
Aber Vorsicht: Das Buch enthält einen Anhang über den sog. "gekrümmten Raum". Dieser Anhang ist - leider - Quatsch.
Lustig ist, wie man mit diesen Regeln Fotografen und ihren Tricks auf die Schliche kommt. Wenn man nämlich weiß, wo der Horizont im Bild verläuft, kann man bei Portraits nachträglich bestimmen, ob der Fotograf auf Augenhöhe mit seinem Modell war oder nicht. War das der Fall, dann verläuft der Horizont nämlich auch durch die Augen des Modells. Sind die Augen des Modells über dem Horizont, so liegt eine Untersicht vor, sind sie unterhalb des Horizonts, so hat er von oben drauf gehalten. Bei Werbeaufnahmen an einem Seeufer oder auf einem Schiff - allgemeiner: auf unendlich weiten Ebenen - ist der Horizont übrigens leicht zu finden: Hier isser identisch mit dem sichtbaren Horizont.
