Der schöne Bereich zwischen den Extrempunkten "Knollennase" und "Briefmarkengesicht" hängt ausschliesslich an der Entfernung zwischen Fotoapparat und Modell. Maßstab ist dabei unser Augenabstand, der nur ein bestimmtes Verhältnis von Tiefeninformation zu Objektentfernung auflösen kann. Aus mehr als vier oder fünf Metern können wir innerhalb eines Gesichts eben keine Tiefeninformationen mehr unterscheiden.
Unsere Sehgewohnheiten entspringen halt unseren sonstigen Gewohnheiten. Im direkten Zwiegespräch kommen wir unserem Gegenüber vielleicht auf 1 bis 2 m nahe und konzentrieren uns dann auf sein Gesicht. Das ist das Vorbild für übliche Portraits. Ganzkörperportraits stellen eher eine Begegnung nach, z.B. auf der Straße. Dabei entspricht der Abstand etwa der üblichen "Grußentfernung" (vielleicht so 3 bis 5 m) und wir tolerieren dabei die eher flache Darstellung einer Person.
Zudem hilft uns unser Gehirn auch mit der Auswertung von Licht und Schatten oder der 3D-Rekonstruktion von sich bewegenden Objekten. Letzteres klappt im Foto natürlich nicht, aber die Lichtsetzung beeinflusst die wahrgenommene Dreidimensionalität ähnlich stark wie der Schärfeverlauf.
Aber man kann natürlich auch gegen die Sehgewohnheiten fotografieren. Ganzkörperportraits mit Weitwinkelobjektiven, z.B. von liegenden Personen mit scheinbar verlängerten Extremitäten waren mal sehr modern und werden heute noch gerne genommen. Oder Kopf/Schulter-Portraits mit Umgebung, wie von 01af gezeigt, sind m.M.n. oft attraktiver als zu enge Beschnitte.
Freistellung ist ursprünglich ein ungewollter Effekt. Die hochlichtstarken leichten Teleobjektive sind entstanden als Theaterobjektive. Bei wenig Licht ohne Blitz aus dem Publikum die Szene zu fotografieren war ihre vorrangige Aufgabe. Dabei störte die geringe Schärfentiefe kaum, weil der Abstand sowieso eher groß war.
Heute finde ich, dass man unterscheiden sollte. Es gibt die Freistellung als Kompensation für schlechte Bildplanung bzw. Planbarkeit zur Ausschaltung einer störenden Umgebung und es gibt den Schärfeverlauf als Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit bzw. zur Betonung des Motivs. Bei letzterem ist das absolute Maß der Freistellung weniger entscheidend, man muss lediglich scharfe und unscharfe Bildbereiche auf den ersten Blick unterscheiden können.
Für einen gut erkennbaren Schärfeunterschied zwischen ganzem Mensch und nicht zu nahem Hintergrund (> 2,5 - 3 m hinter der Person) sehe ich die Grenze irgendwo bei einer Apertur von > 15mm. Das bedeutet mit einer Leica Q (KB) mit dem 1,7/28mm (16,5) bekomme ich das hin, mit dem PanaLeica 1,4/25mm (17,9) an MFT auch, sogar am langen Ende des Olympus 12-40mm (14,3) klappt es noch halbwegs. Mit dem 1,8/17mm (9,4) oder auch einem 2,8/35mm an KB (12,5) wird es dann aber tendenziell knapp und man muss dann entweder näher ran und z.B. die Beine "abschneiden" oder eben eine längere Brennweite verwenden.
Viele Grüße,
Sebastian