Freistellen und Freistellen sind Zweierlei. Abseits extremer Freistellungen, die durchaus auch sinnvoll sein können, ähnelt die Freistellung bis zu einem gewissen Grad auch dem normalen Sehen, vor allem bei kürzeren Motivdistanzen. Wenn man bspw. ein Buch in der Hand hat und den Text liest, ist alles drumherum auch unscharf. Auch hier ists praktisch, weil die Umgebung sonst ablenken und beim lesen, Fotos angucken, usw ablenken würde. Zudem wirkt ein Motiv zuweilen auch schärfer und plastischer und damit natürlicher, wenn die Umgebung in eine gewisse Unschärfe gehüllt ist.
Also ich glaub, da irrst Du Dich gewaltig.
Breite doch mal eine große Zeitung am Tisch aus, beuge dich dann über die Zeitung, sodass Du möglichst im rechten Winkel die Zeitung betrachtest in Deiner natürlichen Leseentferung - dann konzentriere Dich auf ein bestimmtes Wort auf dieser Zeitung. Wenn Du jetzt versuchst, Texte zu entziffern, die sich weiter außen am Rand Deines Sehbereiches befinden, ohne die Augen zu bewegen, wirst Du feststellen, dass Du das nicht kannst. Und das, obwohl der zu entziffernde Text noch innerhalb des Schärfebereichs liegt.
Der Grund ist, dass die maximale Schärfe des Auges in der Mitte am höchsten ist. Je weiter man bei der Netzhaus an den Rand kommt, umso schlechter wird das Sehen. Einerseits nimmt die Anzahl der Sehzellen rapide auf (womit eben die 'Auflösung' sinkt), und ganz außen gibt es nur noch Sehzellen, die lediglich Helligkeiten unterscheiden können, aber keine Farben. Das ist auch der Grund, warum so manche Täuschungen funktionieren.
Und dieser Aufbau unseres Auges hat schlicht einen evolutionären technisch-biologischen Hintergrund. Die Sehzellen in der Mitte der Netzhaus sind für das Detailsehen verantwortlich. Deswegen bewegen wir ja auch ständig die Augen über ein Bild, wen wir einzelne Details erkennen wollen. Es genügt also nicht, den Blick auf die Bildmitte zu legen, um alles gleich scharf zu sehen. Mit der Entfernung hat das mal gar nichts oder nur marginal zu tun. Und da die Details nur mit der Netzhaus-Mitte 'gesehen' werden können, wird das Gehirn massiv entlastet, weil ja genau dort die Interpretation des Gesehenen erfolgt. Und dass unser Sehfeld größer ist als der Bereich der größten Schräfe hat den Grund, weil es für das Tier 'Mensch' seinerzeit ungemein wichtig war, Gefahren möglichst rechtzeitig zu erkennen. Und Gefahren wurden in der Regel durch Bewegungen erkannt. Deshalb sind die Sehbereiche am Sehfeldrand in erster Linie nur dazu da, um Bewegungen zu erkennen. Du kannst das selber gerne ausprobieren: Ganz am Rand wirst Du überhaupt keine Einzelheiten erkennen, aber sehr wohl Bewegungen.
Das 'normale' Sehen hat also mit einer Fotografie aber überhaupt nichts gemeinsam. Willst Du das menschliche Sehen in einer Fotografie nachstellen, dann brauchst Du eine enge runde Maske über der Bildmitte mit einem weichen Verlauf (der breit genug ist), über den man einen Weichzeichnerfilter legt. Und danach müsstest Du eine weite runde Maske über das Bild legen, ebenfalls mit einem weichen Verlauf mit umgekehrter Maskierung, über den Du einen SW-Filter legst.
Ich persönlich finde die extermen Freistellungen ebenfalls grottenhässlich. Als Effektfilter noch akzeptabel, wenn er nur sehr spärlich zum Einsatz kommt. Wie ich schon sagte: Der Mensch 'tastet' alles, was er sieht, eben mit seinen Augen ab, und deswegen ist es meiner Meinung nach notwendig, dass man dem Auge auch entsprechend viele Punkte bietet, an dem der Blick verweilen kann.
In einer der hier eh schon massenahft stattgefundenen Diskussionen betreffend der extremen Freistellung hat ein Kollege ein Bild gezeigt, welches er mit einer 1.2/50mm Optik geschossen hat. Es zeigte seinen kleinen Sohn (3 oder 4 Jahre alt) in einem Park auf offenem Gelände; das Kind hat nur einen sehr kleinen bereich des Bildes eingenommen, der überwiegende Rest war die Landschaft des Parks. Man hat sehr deutlich gesehen, dass bereits ein paar cm vor dem Kind und ein paar cm nach dem Kind die Unschärfe begonnen hat. Das Bild hat den Eindruck einer Modellbahnanlage gemacht. Ich fand das ungemein langweilig. Warum? Nun - vermutlich hätte ich hier eine Brennweite von 200 oder gar 300mm gewählt, sodass der Bub auch formatfüllend zu sehen ist. Da hätte dann eine Blende von 4.5 oder gar 5.6 gereicht, um ihn von der Umgebung abheben zu lassen. Aber das Bild hätte den Vorteil gehabt, dass ich die Details des Kindes betrachten hätte können: ich hätte in dessen Auge sehen können, ich hätte die gesamten Gesichtszüge gesehen, ich hätte Details der Kleidung erkannt, vielleicht gesehen, was er in den Händen hält usw usw usw. Aber beim gezeigten Bild hab ich zu über 90% nur unscharfe Landschaft gesehen. Eben: stinklangweilig!
Aber wenn es gefällt, ist es auch ok für mich. Ich brauch ja nicht hinschauen.
