heute habe ich oft das gefuehl, dass man die philosophie entkernt hat, indem man ihr die praxistauglichkeit nahm - und sie lebt ja foermlich von taten. genau das gleiche gefuehl beschleicht mich in dieser diskusion - obwohl es viele kleine perlen gibt, die einen zum denken anregen. der titel selbst drueckt es eigentlich schon aus, "nichts ist ferner von der wahrheit als die ideologie."
Wer hat wem was genommen?
Nun, das ist schon eine lange Geschichte und sie ist Bestandteil einer jeden Lebensgeschichte, seit der Vertreibung aus dem Paradies. Seither sind wir entweder Täter, als manipulierende Ideologen, die Macht über andere ausüben wollen, oder Opfer, die manipuliert werden. Und zwar immer gleichzeitig: Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.
Wir sind aber nicht gerne Täter, lieber Opfer. Da klopfen wir gerne an das erwähnte Körperteil und stellen uns frei von Schuld. Dein Zitat: ""Nichts ist ferner von der Wahrheit als die Ideologie" heisst in der Regel wahrhaftiger "Ich bin kein Ideologe, deshalb bin ich auch im Besitz der Wahrheit."
Jeder Mensch ist aber Ideologe. Solange wir allerdings den Täter-Anteil leugnen, sind wir nicht in der Lage, die eigene Rolle wahrhaftig wahrzunehmen und begeben uns bedauerlicherweise, mit unserem Leben wahrhaft umzugehen und das Beste daraus zu machen.
Was das mit Fotografie zu tun hat?
Wir können keine guten Bilder machen, sofern wir nicht in der Lage sind, von der eigenen Subjektivität zu abstrahieren. Das ist notwendig, denn erst dann können wir genau hinsehen und unsere Rolle beim Klick auf den Auslöser und/oder die Maus so gut wie möglich einschätzen. Und mit dieser Beschäftigung mit dem eigenen Sein nimmt auch die Fähigkeit zu, zwischen den Zeilen zu lesen und zu verstehen, was wir sehen. Denn: "Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
Ein Anwendungsfall:
Ein gutes Portrait lebt davon, wie gut ich meine Gegenüber nicht nur sehen, sondern verstehen kann. Und das kann ich nur, wenn ich mich selber verstehe. Sonst werde ich leicht zum manipulierenden Täter, der meine Wahrheit über die meines Probanden stelle. Erstaunlich übrigens, wie gut Menschen intiutiv über diesen Prozess Bescheid wissen und wie zielsicher sie beurteilen können, ob das Portrait "gelungen" ist oder nicht. Oder anders ausgedrückt: Ob der Fotograf richtig gesehen/gefühlt hat. Das habe ich am eigenen Leib gespürt, als ich meine jetzige Frau in den Anfängen unserer Beziehung von mir zu überzeugen hatte (das war nicht leicht, ihre Ansprüche waren sehr hoch!), habe ich eigentlich nur ein paar Fotos von ihr gemacht. Das war's: "So hat mich noch niemand gesehen" - was eher hieß - "Es hat mich noch niemand so gesehen, wie ich bin".
Wer hat also wem was genommen? Meistens wir uns selber unsere Fähigkeiten. Weil wir nicht sehen lernen.
Zu theoretisch? Zu hochtrabend? Glaube ich nicht. Jeder Mensch weiß alles, zu jeder Zeit.