Hallo King Rollo!
1. Das menschliche Gehirn gleicht offenbar ständig sehr viel mehr ab, als ich vermutet habe. Der Mensch sieht also nicht "physikalisch korrekt".
Richtig. Unsere Farbwahrnehmung macht ihren eigenen 'Weißabgleich' - auch als "chromatische Adaption" bekannt.
Streng genommen sehen Digitalkameras im Regelfall übrigens physikalisch
zu "korrekt". In den Sensor-/Rohdaten dominiert beispielsweise der Grünkanal, während Rot und Blau im Verhältnis dazu unterrepräsentiert sind. Im Anhang ist ein Beispielbild, das ich mit Hilfe von
dcraw einmal 'ohne' einen Weißabgleich entwickelt habe (d.h. alle Farbkanäle wurden gleich stark mit Faktor 1 berücksichtigt).
Damit überhaupt natürlich wirkende Bilder entstehen, ist so gesehen der Weißabgleich - im Sinne der richtigen 'Balance' zwischen den Farbkanälen - tatsächlich eine technische Notwendigkeit. Beispielsweise muss bei Tageslicht der Rotkanal deutlich angehoben/verstärkt werden.
2. Offenbar gibt es keine korrekte Definition von "Weiß", an der sich eine Kamera orientieren könnte. Es muss immer ein Situationsabhängiges Einpegeln des Weißpunktes stattfinden.
Jein. Es gibt natürlich eine Referenz, die sich am Ergebnis orientiert: Im fertigen Bild muss dieser Bereich dann farbneutral sein (bei RGB also in allen drei Farbwerten übereinstimmen).
Aber: Das setzt voraus, dass ein 'bekannt' farbneutrales Motiv dargestellt wird - beispielsweise die beliebte Graukarte. Unter dieser Voraussetzung kann man dann die benötigte Gewichtung der Farbkanäle berechnen, mit der die Bedingung "farbneutral" eingehalten wird.
Häufig wird ein Bild aber entweder keine wirklich farbneutralen Bereiche enthalten oder die Kamera nicht 'wissen' können, wo sie denn nun danach zu suchen hätte. Wenn dann die exakte Lichtfarbe ebenfalls unbekannt ist, wird der (automatische) Weißabgleich zum Ratespiel. Bei "Mischlicht" (unterschiedlichen Lichtquellen mit verschiedener Farbtemperatur) oder Licht mit ungewöhnlicher spektraler Zusammensetzung (wie etwa Leuchtstoffröhren oder LED-Strahler) wird es zunehmend unmöglich, einen einheitlichen 'richtigen' Weißabgleich anzugeben. Hier reagieren Digitalsensoren eben sehr empfindlich (oder wieder: physikalisch 'zu' korrekt), und einfach anders als die menschliche Farbwahrnehmung.
Zu guter Letzt bleibt dann noch eine subjektive Komponente, die auch zuvor schon angesprochen wurde: Manchmal ist ein 'technisch' korrekter Weißabgleich gar nicht wünschenswert, weil er die 'gefühlte' Lichtstimmung zerstören würde - klinisch reines Glühlampenlicht oder 'kalt' gerechnete Sonnenuntergänge wirken schnell unnatürlich/unglaubwürdig.
Gruß, Graukater