So wird die Sache schon klarer. Vor dem Start
des Verschlusses, praktisch mit der Schwingspiegelbewegung muss der IS
die zentrierte Position erreicht haben. Von dort aus beginnt am Anfang
der Belichtungszeit für die Dauer der Belichtung die Ausregelung der
Wackelbewegungen innerhalb des Aussteuerbereichs des IS. Soweit so
logisch.
OK, soweit sind wir uns offenbar einig.
Der IS muss ja recht flott sein um die Zitterei auszuregeln (abzüglich
der Regelabweichung, PD-Regler, die I-Komponente ist m. M. nach nicht
relevant weil die Zeit dafür zu kurz ist).
Gut, I-Anteil für stationäre Genauigkeit vergessen wir mal...
Die Frage ist: Was ist eigentlich die Regelgröße? Ich sehe drei
Möglichkeiten:
1. Die Position des Bildes auf dem Sensor. Messen kann ich aber wohl nur
die Beschleunigung der Kamera (genauer: des Objektivs), daher muss ich
hier zweimal integrieren. Der Sollwert ist hier irgend ein Anfangswert, den ich einfach mal zu Null setze, wenn der IS aktiviert wird.
2. Die Geschwindigkeit des Bildes auf dem Sensor. Hier muss ich die
Beschleunigung einmal integrieren. Der Sollwert ist hier einfach: 0.
So, nun habe ich auf der Geschwindigkeit aber einen Drift, allein auf
Grund der Messungenauigkeiten, die sich aufintegrieren. D.h. ich
muss irgendwie den Integrator mal wieder leermachen und irgendwann davon
ausgehen: "Jetzt ist die Kamera in Ruhe". Dann fahre ich die Linsen
wieder in die Mitte und harre weiterer Beschleunigungsmesswerte.
3. Ich regele direkt die Beschleunigung (P, PD, wie auch immer).
Sollwert ist auch hier wieder 0. Messe ich eine Beschleunigung des
Objektivs, so versuche ich das mit den Linsen auszuregeln, soweit es
mein Stellbereich eben zulässt. Auch hier habe ich aber das Problem,
dass ich irgendwann mal wieder in die Mittenposition fahren muss, um
dann wieder in alle Richtungen stellen zu können. Die Position der
Linsen ergibt sich hier ja quasi auch aus einem doppelten Integrator der
Beschleunigung...
Welche auch immer dieser drei Möglichkeiten korrekt ist (oder auch eine ganz andere), gemeinsam dürfte das folgende Problem sein: Wenn ich den IS aktiviere und dann die Kamera (absichtlich) verschwenke, sieht der IS nur die Bewegung und muss diese zunächst für ein ungewolltes Wackeln halten. Daher wird er die Linsen bis zum Anschlag so bewegen, dass diese Bewegung weitest möglich ausgeglichen wird. Nach dem Anhalten der Kamera in der neuen Position (OK, theoretisch könnte der IS die negative Beschleunigung beim Abbremsen registrieren, scheint er aber nicht zu tun... Spricht für Möglichkeit 1) sind also die Linsen immer noch maximal ausgelenkt. Irgendwann muss jetzt der IS "einsehen" (was das technisch bedeutet, hängt davon ab, welcher der drei obigen Methoden zur Anwendung kommt), dass das kein Wackeln war, und die neue Position jetzt der Sollwert ist. Anschließend werden die Linsen wieder in Mittelstellung gefahren, um den maximalen Stellbereich in alle Richtungen zur Verfügung zu haben. Sowohl das "Merken" (allmähliches Leeren eines Integrators oder wie auch immer es geht) als auch das Verfahren der Linsen dauert aber Zeit. Habe ich während dessen schon den Auslöser gedrückt, wird das Bild unscharf.
Deshalb meine ich, dass man auf eine Einstellung des Arbeitspunktes
nicht warten muss, weil die Zeit der Spiegelbewegung ausreichen muss.
Begründung: Bei schnellen Serienbelichtungen mit 5 FpS oder mehr bleibt
der IS funktionsfähig. Eine Zeit um vor jeder Aufnahme den Arbeitspunkt
anzufahren gibt der Fotograf dem IS dann auch nicht.
Ich denke, es sind zwei verschiedene Effekte, über die wir hier sprechen:
1. Die Linsen sind ausgelenkt, es liegt als neuer Sollwert für die Position der Linsen die Mittelstellung vor. Wie lange dauert es, bis die Linsen in der Mitte zur Ruhe gekommen sind? Hier magst du Recht haben, dass das wohl sehr schnell geht, da der IS ja tatsächlich sehr schnell sein muss, damit das Konzept überhaupt funktioniert.
2. Der IS versucht noch, durch Verfahren der Linsen eine alte Position der Kamera "wiederherzustellen", diese ist jedoch absichtlich verschwenkt worden. Jetzt dauert es etwas, bis der neue Sollwert (der Linsenposition) überhaupt anliegt, unabhängig davon, wie schnell er dann angefahren werden kann.
Also: Die Folgeregelung der Linsenposition, wenn ich mal weiß, wo ich sie hinhaben will, wird sehr schnell sein. Erstmal muss ich das aber wissen...
Eine "Wartezeit zum Einschwingen" seitens des Fotografen ist meiner
Meinung nach nicht nötig. Dann hätte das System sein Ziel verfehlt. Die
Zeit zwischen Auslösung und Beginn des Verschlussablaufs muss ausreichen.
Ob das nun wirklich so ist, werden uns die Canon-Ingenieure nicht
verraten.
Siehe oben: Zu Punkt 1. hast du vermutlich Recht. Bleibt aber Punkt 2.
Wie auch immer das nun intern gelöst ist, wenn man den IS mal als Blackbox in der Übertragung "Position der Kamera => Position des Bildes auf dem Sensor / im Sucher" betrachtet, wirkt er wie ein Verzögerungsglied (1. oder 2. Ordnung?). Das ist im Sucher - wie gesagt - sehr schön nachzuvollziehen: Bewegst du etwa die Kamera nach links, so rutscht zunächst das Bild im Sucher etwas mit nach links (d.h. der Ausschnitt im Verhältnis zur Kamera nach rechts, relativ zur Kamera bleibt das Bild also noch kurz stehen, obwohl die Kamera sich bewegt), bis die Stellgrenze erreicht ist, dann zieht man den Ausschnitt eben mit. Bremst man jetzt die Schwenkbewegung ab, bleibt das Bild im Sucher zunächst auch stehen und schiebt sich anschließend noch etwas nach rechts (d.h. der Ausschnitt im Verhältnis zur Kamera wieder nach links). Habe ich zu diesem Zeitpunkt schon ausgelöst, belichte ich mitten in dieser Bewegung und erhalte ein unscharfes Bild. Ich habe somit durch die Schwenkbewegung der Kamera verwackelt: Die Kamera selbst ist zwar schon wieder in Ruhe, das Bild auf dem Sensor jedoch durch die Verzögerungswirkung des IS noch in Bewegung.