Was man in der Debatte um Photoshop vs. Lightroom schnell übersieht, ist die Tatsache, dass es Fotografen mit sehr unterschiedlichen Tätigkeitsschwerpunkten gibt - von unterschiedlichen Vorlieben will ich gar nicht erst anfangen.
Mit den RAW-Konvertern ist eine neue Art der Bildbearbeitung entstanden, die für bestimmte (nicht alle) Anwender Vorteile gegenüber der klassischen Bildbearbeitung im Stil von Photoshop hat. Insofern ist die Aussage, Photoshop könne zusätzlich zu seinen speziellen Fähigkeiten auch alles, was Lightroom kann, etwas zu kurz gegriffen. Von der reinen Feature-Aufzählung her mag das stimmen, aber das ist nur die halbe Miete. Ich will mal zwei Beispiele ausführen.
1) Ein Porträtfotograf hat im Auftrag einer Zeitschrift eine Studiosession mit insgesamt 400 Aufnahmen hinter sich; Ziel ist das Porträt einer Person fürs Titelbild. Er schaut diese Bilder nun sorgfältig durch und sortiert sie in mehreren Durchgängen aus, bis am Ende drei Bilder übrig sind. Diese drei Bilder bearbeitet er "bis zum Anschlag", exportiert sie in hoher Qualität und schickt sie seinem Auftraggeber, der daraus das Titelbild auswählt.
Welche Programme verwendet er dazu? Das Bild aussortieren könnte er in Lightroom, aber auch in der Bridge. Die drei Bilder der Endauswahl farb- und kontrastkorrigieren sowie RAW-konvertieren könnte er mit Lightroom, aber auch mit Camera Raw. Weitergehende Bearbeitungen wie Hautretusche in mehreren Ebenen, Formkorrekturen mittels Verflüssigen-Filter etc. verlangen in jedem Fall nach Photoshop.
Der Fotograf wird sich möglicherweise fragen, wozu er überhaupt Lightroom verwenden soll. Alles, was er braucht, kann Photoshop, und für den zweiten Teil der Bearbeitung braucht er Photoshop ja sowieso.
2) Ein Veranstaltungsfotograf hat im Auftrag des Veranstalters auf einem "Bunten Abend" insgesamt 400 Aufnahmen gemacht. Eine Auswahl der Bilder soll für die Homepage des Veranstalters vorbereitet werden; zusätzlich sollten die meisten Bilder auf eine Verkaufsplattform hochgeladen werden, wo Besucher und Teilnehmer Abzüge bestellen können. Der Fotograf schaut die Bilder durch und entfernt doppelte sowie technisch misslungene Bilder, wodurch am Ende 150 Stück übrig bleiben. Die 150 verbliebenen Bilder müssen nun RAW-konvertiert werden, wobei der Weißabgleich eine besondere Herausforderung darstellt: Zu Beginn der Veranstaltung kam noch Tageslicht von der Fensterseite in den Raum. Dann wurde ergänzend das Leuchtstoffröhren-Raumlicht zugeschaltet, und auf der Bühne kamen Halogenlampen zum Einsatz. Es gibt also reine Tageslicht-Bilder vom Anfang, Mischlicht-Bilder vom mittleren Teil, Leuchtstoffröhren-Bilder aus dem Pulikum vom späteren Abend sowie Halogenlampen-Bilder von der Bühne. Eine intensivere Berarbeitung der Bilder ist schon aufgrund des dokumentarischen Charakters nicht erwünscht. Am Ende der Bearbeitung werden alle 150 Bilder in voller Auflösung für die Verkaufsplattform im JPEG-Format exportiert. Zusätzlich werden 10 der Bilder exemplarisch ausgewählt und in geringerer Auflösung für die Homepage des Veranstalters ausgegeben.
Welche Programme verwendet der Fotograf dazu? Das erste Aussortieren könnte er mit Lightroom oder mit der Bridge erledigen. Das Einstellen des Weißabgleichs wird er bestimmt lieber mit Lightroom machen: Die Bilder, die jeweils unter gleichen Lichtverhältnissen entstanden sind (und die ja nicht unbedingt direkt hinterenander einsortiert sind), kann er jeweils markieren und den Weißabgleich für alle zusammen einstellen; das geht zack zack. Dann wird er den Mischlicht-Bildern zunächst einen Kompromiss-Weißabgleich zuweisen und sie dann teils einzeln, teils in Gruppen weiter bearbeiten: Bei manchen muss er den Kompromiss etwas verschieben, bei manchen muss er die Sättigung einer bestimmten unerwünschten Farbe reduzieren etc. Neben dem Weißabgleich können noch andere Einstellungen hinzukommen, z. B. das Aufhellen des Vordergrundes in einer Reihe von Bildern, die mit hohem Kontrastumfang gemacht wurden, oder eine angepasste Rauschreduzierung, weil mit zunehmender Dunkelheit teils höhere ISO-Einstellungen nötig wurden. In Lightroom geht das sehr flexibel und vergleichsweise zügig, weil man immer wieder andere Gruppen gemeinsam markieren und die Einstellungen synchronisieren kann; dabei kann man zwischen der Ansicht der gerade markierten Bilder wechseln. Mit Camera Raw und der Bridge wäre nur ein allgemeines Übertragen von Einstellungen möglich, das mit dem flexiblen Workflow von Lightroom nicht vergleichbar ist; das Einstellen würde erheblich mehr Zeit verschlingen.
Auch für den Export aller 150 Bilder sowie die Auswahl und den Export der verkleinerten Homepage-Bilder ist Lightroom eine gute Wahl. Photoshop wäre hierfür nur ein Umweg.
Der Fotograf wird sich möglicherweise fragen, ob er Photoshop für seine Arbeit wirklich noch braucht.
In der Praxis mag es mehr durcheinander gehen, weshalb auch viele Fotografen, die zu 90 % mit Lightroom auskommen würden, zusätzlich noch Photoshop für die restlichen 10 % bereithalten. Und Fotografen, die "eigentlich" alles Gewünschte mit ACR und Photoshop machen könnten, nutzen manchmal trotzdem noch Lightroom, z. B. wegen der Bildverwaltung oder wegen der praktischen Exportoptionen.