Die Fernsehdokumentation über seine Arbeit habe ich mal gesehen und ich muss sagen, dass ich da seine Arbeitsweise teilweise etwas kritisch gesehen habe.
Besonders an eine Szene mit Steine werfenden und mit Zwillen schießenden Jugendlichen bei der Intifada kann ich mich erinnern, bei der er die Aktionen durch sein Dabeisein direkt mit beeinflusst hat. Die Jugendlichen wurden durch seine Anwesenheit sichtlich animiert und haben sich entsprechend anheizen lassen und sich in Pose gesetzt (und sich damit in Lebensgefahr gebracht). Damit hat er direkten Einfluss auf das Geschehen genommen und hätte sich dann eigentlich sofort zurückziehen müssen. Sonst ist er kein reiner Beobachter mit der Kamera mehr, sondern wird mit zum Beteiligten, der indirekt auf das Geschehen Einfluss nimmt.
Für einen rein nur beobachtenden Dokumentarfotografen eigentlich ein Unding.
Kritiker haben ihm schon vorgeworfen, dass er das Grauen des Krieges in zu ästhetischen Bildern zeigen würde und er teilweise mehr Wert auf die Form, als auf den Inhalt legen würde.
Aber gut - das wahre Grauen und die schonungslosesten Bilder des Krieges will ja auch keiner wirklich sehen und wären auch nicht für öffentliche Ausstellungen und Bildbände geeignet ..........
Andreas
Hallo, Andreas!
Mit Deinem ersten Kritikpunkt tust Du ihm, glaube ich, Unrecht. Nach allem, was ich von Nachtwey gesehen beziehungsweise über ihn gelesen, gehört, gesehen habe, glaube ich ihm, dass er den Menschen, die er fotografiert, ihre Würde lassen und das Geschehen nur beobachten, nicht aber beeinflussen will. Einflussnahme in dem von Dir geschilderten Sinn ist natürlich nicht zu vermeiden. Das wäre nur dann möglich, wenn er unsichtbar wäre. Geh mal zu einer Versammlung von Politikern, heb eine Kamera und beobachte deren Reaktionen

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Insofern ist es unmöglich für einen Dokumentarfotografen, "rein nur zu beobachten". Ich habe einen Filmbericht über Nachtwey gesehen, in dem er bei der Arbeit im ehemaligen Jugoslawien gezeigt wurde. Da hat er die Trauer einer Familie um einen Gefallenen dokumentiert, und dazu musste er die unausgesprochene Zustimmung der Trauernden haben. So gilt auch für den Dokumentarfotografen, was die Quantenphysiker seit Jahrzehnten wissen: Der Vorgang des Beobachtens verändert das beobachtete Objekt. Unvermeidlich. Nachtweys Fotos sind trotzdem großartig und haben trotzdem schon mehrfach dazu beigetragen, dass sich Politik änderte. Zum Beispiel in Somalia.
Deinen zweiten Kritikpunkt finde ich stichhaltiger: Seine "tägliche" Arbeit sieht so aus, dass er menschliches Grauen "ästhetisch" ablichtet. Sowas kann man vermutlich nur tun, wenn man Charakterzüge eines Landsknechts hat. Das meine ich jetzt nicht beleidigend! Aber der Mann zieht von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz, macht Fotos von organisiertem Töten und den Folgen - und bleibt trotzdem er selbst. Irgendwie muss er sich selbst "abschotten" gegen das, was er da sieht und HERVORRAGEND fotografiert. Schau Dir seine Bilder an. Die sind richtig gut gestaltet. Die Lichtstimmung ist IMMER erstklassig wiedergegeben. Nachtwey geht perfekt mit Licht um. Angesichts menschlicher Tragödien. Das macht ihn mir suspekt, obwohl ich seine Fotos.... hier schon genug gelobt habe.
Für mich sind in der Reportagefotografie James Nachtwey und George Rodgers (Magnum-Mitbegründer) Gegenpole: Beide hatten die gleich Profession. Und Rodgers hat Konsequenzen gezogen. Er war dabei als Bergen-Belsen befreit wurde, hat die Berge mit Leichen der Ermordeten fotografiert - und entsetzt festgestellt, dass er sich angesichts dieses Anblicks auf Fragen wir "Woher kommt das Licht?" oder "Ist das jetzt der Goldene Schnitt" konzentriert hat. Danach hat er nie wieder als Kriegsfotograf gearbeitet. Der beobachtete Gegenstand hat ihn verändert.
Nachtwey dagegen ist nicht verändert worden von dem, was er gesehen hat. Er ist jetzt wahrscheinlich auf dem Weg zum nächsten Kriegsschauplatz. Und wenn sein nächstes Buch erscheint, werde ich das vermutlich kaufen...